9. Mai: 75 Jahre Historische Erklärung von Bbr. Robert Schuman

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„Es gibt einen Feind, vor dem ich ganz besonders warnen möchte [...]. Dieser Feind heißt die Ungeduld, sei sie gekünstelt oder nicht“ – so schrieb der ehemalige französische Ministerpräsident, Außen- und Finanzminister Bbr. Robert Schuman in seinem testamentarischen Werk „Pour l’Europe“ – Leitfaden für Europa“. Dieser Versuchung dürften viele mit Blick auf den heutigen Zustand der Europäischen Union und massive neue Angriffe auf das kontinentale Friedensprojekt wohl nur mit Mühe widerstehen.

Unitas-Prinzipien als Programm

Robert Schuman aber, der heute vor genau 75 Jahren am Quai d´Orsay vor die versammelte Weltpresse mit seiner „Historischen Erklärung” trat, war getragen von jenen Prinzipien, die er bei der Unitas zutiefst verinnerlicht hatte: Virtus – Scientia - Amicitia. So zählte für ihn zur Tugend der Tapferkeit auch eine standhafte Geduld. Und dazu rief er bereits damals auf:

„Der Beweis ist erbracht, dass wir rasch zu handeln verstehen. Wir kennen andererseits die der Europaidee innewohnende Macht; sie hat sich bereits bewährt und wird sich weiter durchsetzen, da sie uns den einzigen Ausweg aufzeigt aus dem bisherigen Chaos. Keine Schwierigkeit wird und darf uns aus der Fassung bringen. Ebensowenig aber dürfen wir den notwendigen Auseinandersetzungen, sei es mit den Gegnern, sei es mit den Unentschlossenen aller Art aus dem Wege gehen [...]. Auf seine Frage, warum er niemals pessimistisch sei, lautete seine Antwort: „Weil ich geduldig bin.“ (S. 551f.)

Robert Schuman. Eine Biografie in Zeitzeugenberichten

Schumans Plan, die Geburtsurkunde der Europäischen Union, prägte über die Montanunion und viele weitere Verträge unseren Kontinent nachhaltig. Allerdings offensichtlich so massiv, dass es fast nicht mehr auffällt. Kaum jemand wird sich noch fragen, warum am 9. Mai jeden Jahres wirklich die Europafahne aufgezogen wird: Zu selbstverständlich erscheint das historisch beispiellose Friedensprojekt, zu fern aber auch sein eigentlicher Geist.

Dieser Geist verdichtete sich vor allem in der Person des aus dem deutsch-französisch-luxemburgischen Grenzland stammenden Staatsmannes, wie das 2023 erschienene Buch „Robert Schuman. Eine Biografie in Zeitzeugenberichten“ deutlich macht. „Mehr als de Gaulle, mehr selbst als Adenauer und De Gasperi darf er als Vater eines vereinten Europa gelten“, schreibt Hans Maier in seinem Vorwort: „Schuman hat Türen aufgestoßen, er hat historische Konstellationen, die unveränderlich schienen, verwandelt. Er hat Zusammenarbeit, ja Freundschaft an die Stelle historischer Feindschaft gesetzt“, so der Politikwissenschaftler und ehemalige bayerische Staatsminister.

Wer sich aufmacht, „einen europäischen Politiker wieder zu entdecken, dessen Handeln im Einklang mit seinen Werten stand, der Versöhnung und Verständnis statt Spaltung und Polemik suchte“ (Verlag), wird in dem über 640-seitigen Werk eine sehr lesenswerte neue Dokumentation finden, die an vielen Stellen weit über die bereits bekannte Literatur hinausgeht. Verfasser ist Manfred Kontz, Vizepräsident des Institut Saint-Benoît aus dem Bistum Metz, in dem 1990 der Seligsprechungsprozess eingeleitet worden war. Seine kenntnis- und detailreiche Biografie würdigt viele neue Quellen und Zeitzeugenberichte zum Leben Robert Schumans, dem Papst Franziskus im Juni 2021 die Anerkennung des heroischen Tugendgrades zusprach.

Sein Weg für den Aufbau eines neuen Europa

Die im Schöningh-Verlag erschienene, streng chronologisch aufgebaute Darstellung präsentiert Robert Schumans Kindheit und Jugend, seine schulische Bildung, Lieblingsorte und Kontaktpersonen, seine Studienjahre in Deutschland und religiösen Prägungen, die Anfänge seines politischen Wirkens, sein Schicksal in Krieg und Nationalsozialismus und sein Aufstieg in höchste politische Ämter nach dem Krieg. Zeugnisse von Reden, Reisen und Begegnungen machen deutlich, wie konsequent dieser höchst eigenständige Politiker Schritt für Schritt seinen Weg für den Aufbau eines neuen Europa ging - vor allem in der französisch-deutschen Aussöhnung, welchen Widerständen er sich stellen musste, welche Leidenschaft er entfachte.

Sie zeigen seinen feinen Humor, vor allem aber auch seine tiefe religiöse Zuversicht, mit der er auf die Vernunft, die Einsicht und die Jugend setzte. Damit stellt Manfred Kontz, ehemaliger Studiendirektor am Robert-Schuman-Gymnasium in Saarlouis, den wohl wesentlichsten Aspekt dieser so zentralen Persönlichkeit für das Werden des heutigen Europa besonders heraus.

Auch für Unitas-Mitglieder mag immer noch erstaunlich mag sein, wie sehr Bundesbruder Schumans lebenslange Mitgliedschaft im Verband sein ganz persönliches Denken und Handeln geprägt hat – das Thema „Unitas“ zieht sich in allen Jahrzehnten wie ein roter Faden durch die materialreiche Darstellung. Den Unitas-Vereinen in Münster hatte er 1955 zum Stiftungsfest ausdrücklich gewünscht: „Amicitia über die nationalen Grenzen hinaus soll nunmehr ein Losungswort sein für die Unitas.“

„Keine Schwierigkeit wird und darf uns aus der Fassung bringen“

Dass und wie sehr für ihn die tiefe Bedeutung des Wortes „Unitas“ zu einem ganz persönlichen konkreten politischen Auftrag wurde, muss den ältesten katholischen Akademiker- und Studentenverband immer wieder neu inspirieren, der auf Antrag der Unitas Ruhrania Bochum – Duisburg-Essen - Dortmund 2007 bei seiner 130. Generalversammlung in Trier beschlossen hatte, den Europa-Gedanken auf allen Ebenen der Verbandsarbeit zu stärken.

Das Buch: „Robert Schuman. Eine Biografie in Zeitzeugenberichten. Mit einem Vorwort von Hans Maier“, Brill / Schöningh, Paderborn 2023, ISBN: 978-3-506-79287-7; E-Book (PDF), ISBN: 978-3-657-79287-0, Publikation: 24. April 2023, [DE] 49,90 €; Festeinband, ISBN: 978-3-506-79287-7, Publikation: 12. Mai 2023, [DE]  49,90 €

 

Es gibt tiefere und nachhaltigere Gründe für die Einigung.“

Robert Schuman:
Appell zur „Solidarität der Tat"

PARIS, 9. Mai 1950: „Schuman spricht!“ Wie ein Lauffeuer rast die Nachricht durch das akkreditierte Pressecorps. Und was der französische Außenminister Bbr. Robert Schuman (1886-1963) an diesem Tag um 16 Uhr im Uhrensaal des Außenministeriums am Quai d´Orsay mitteilt, ist schlicht sensationell: Er verliest eine Regierungserklärung, in der er die grundlegenden Gedanken für eine Vereinigung der deutschen und französischen Kohle- und Stahlindustrie bekannt gibt – und mehr. Das Risiko ist kalkuliert – er nimmt die Konsequenzen auf sich, denn sein Plan kommt einem politischen Selbstmord gleich. Und doch wird seine Erklärung vor 75 Jahren mit Recht als die Geburtsstunde dessen gefeiert, was wir heute Europa, das politische Europa nennen.

Streng geheim war die mit Jean Monnet, dem Chef des staatlichen Planungsamtes entworfene Regierungserklärung mehrere Wochen lang vorbereitet worden. Schuman hat sie in seinem Haus in Scy-Chazelles noch einmal intensiv überdacht. Ministerpräsident Georges Bidault hat nicht reagiert, nur wenige Stunden zuvor wird der deutsche Kanzler Konrad Adenauer informiert und stimmt sofort zu. Schuman tritt er an das Mikrophon und erklärt in seinen einleitenden Sätzen:

„Es geht nicht mehr um leere Worte, sondern um eine mutige Tat, um eine Gründungstat. Frankreich hat gehandelt, und die Folgen seines Handelns können gewaltig sein. Wir hoffen, dass sie es sein werden. Frankreich hat in erster Linie im Interesse des Friedens gehandelt. Damit der Frieden eine echte Chance erhält, muss es zunächst ein Europa geben. Fast auf den Tag genau fünf Jahre nach der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands tut Frankreich den ersten entscheidenden Schritt für den Aufbau Europas und beteiligt Deutschland daran. Die Verhältnisse in Europa müssen sich dadurch vollständig verändern. Diese Veränderung wird weitere gemeinsame Taten möglich machen, die bisher undenkbar waren. Daraus wird ein Europa entstehen, ein zuverlässig vereintes und ein sicher gebautes Europa."

Seine Erklärung ist programmatisch: „Der Friede in der Welt kann nicht gewahrt werden ohne schöpferische Anstrengungen, die den Gefahren entsprechen, die den Frieden bedrohen“, sagt er. Europa lasse sich nicht mit einem Schlage herstellen, sondern es werde durch konkrete Tatsachen entstehen. Zunächst müsse eine „Solidarität der Tat" geschaffen, der jahrhundertealte Gegensatz zwischen Frankreich und Deutschland ausgelöscht werden – sofort, durch einen ersten ganz pragmatischen, „begrenzten, doch entscheidenden" Schritt: Die französisch-deutsche Kohle- und Stahlproduktion soll einer gemeinsamen Hohen Behörde unterstellt werden, deren Entscheidungen bindend sind. Die Zusammenfassung der wirtschaftlichen Interessen werde zur Hebung des Lebensstandards und zur Schaffung einer Wirtschaftsgemeinschaft beitragen, zudem sei dieser Vorschlag offen für alle anderen europäischen Nationen, die die Ziele teilten.

Ein knappes Jahr später erläutert er in der ZEIT (26. April 1951): „Es wäre ein Irrtum, zu glauben, dass ein geeintes Europa nur eine Improvisation ist, ein Ausweg zur Lösung des deutschen Problems oder ein Schachzug gegenüber der russischen Bedrohung. Es gibt tiefere und nachhaltigere Gründe für die Einigung.“ Die europäischen Länder fühlten sich in ihren nationalen Grenzen mehr und mehr beengt, meint er, sie könnten sich nicht mehr aus eigener Kraft erhalten und ihre inneren Probleme mit eigenen Mitteln lösen. Sein Fazit:

„Die Zerstückelung Europas ist ein Anachronismus, ein Nonsens, eine Häresie geworden. Die politischen Grenzen sind das Ergebnis einer historischen und ethnischen Entwicklung, die wir respektieren. Es soll keine Rede davon sein, sie auszulöschen. In früheren Epochen veränderte man sie mit Hilfe gewaltsamer Eroberungen oder ertragreicher Heiraten. Heute genügt es, ihre Bedeutung zu entwerten. Auf den alten Grundmauern müssen wir ein neues Stockwerk errichten. Das Übernationale wird auf nationalen Grundsteinen ruhen.“

Doch das europäische Projekt hat inzwischen Fahrt aufgenommen – sein Vorschlag ist in der Welt. Jetzt seien europäische Körperschaften zu schaffen, die für gewisse Aufgaben spezialisiert sind. Seine Vision: „Europa schaffen“ heißt gewiss letzten Endes, eine alleinige souveräne europäische Autorität ins Leben rufen.“

Als Bbr. Robert Schuman am Himmelfahrtstag, 15. Mai 1958, mit dem 1950 in Aachen gestifteten Karlspreis ausgezeichnet wird, unterstreicht er die Bedeutung des europäischen „Zentralproblems“ Deutschland-Frankreich „und dass es keine Lösung für Europa geben konnte, solange dieses Problem nicht gelöst war“, erklärt der erst zwei Monate zuvor einstimmig gewählte erste Präsident des Europäischen Parlaments: „Es ist gelöst, und eine Sitzung wie die heutige ist der beste Beweis dafür, dass es in den Beziehungen zwischen Frankreich und Deutschland keine Streitobjekte gibt und dass es für uns die größte und tiefste Befriedigung ist, die wir in einer Zeremonie wie der heutigen empfinden.“

Abertausende von Bürgern der Stadt Metz säum­ten am 7. September 1963 die Straßen, als der tote Bbr. Robert Schuman von der Prä­fektur zur Totenmesse in der Kathedrale überführt wird. Für die Bundesrepublik nimmt Bbr. Dr. Heinrich Krone teil, an der Spitze des Leichenzuges zieht die französische Fahne, hinter ihr die blau-weiß­-goldene Fahne der Unitas aus Bonn.

„R. Schuman hat seit 1904 der Bonner Unitas-Verbindung „Salia" angehört. Er stu­dierte ferner an den deutschen Universitäten Marburg und Berlin, wo er ebenfalls ein treuer und eifriger Unitarier war. Diese deut­schen Stationen haben sein europäisches Wesen mitgeformt“, erinnert der Bonner Zirkelvorsitzende in seinem Nachruf für die Unitas-Zeitung, der mit der unitarischen Dele­gation zu dem kleinen Kreis der Ehrengästen gehörte  („Ein großer Europäer ist heimgegangen“, in: unitas, 103. Jg, Dez. 1963, Heft 12, 226): „Nach einer Woche dankten die beiden fran­zösischen Bürgermeister dem Leiter der Unitas-­Delegation, Dr. Kessel, schriftlich für die Teil­nahme beim Heimgang des großen Franzosen und Europäers Robert Schuman und gaben der Hoffnung Ausdruck, dass Franzosen und Deut­sche die jetzige Europapolitik im Sinne Aden­auer-Schuman fortsetzen mögen. Monsieur le Maire Raymond Lampert schrieb wörtlich: „Für viele war es sehr gesund, auf diese Weise zu erfahren, dass unser großer Europäer damals schon in Bonn „Unitas“ lebte."

Egal, was viele - auch heute - sagen: Europa lebt. Ein Kontinent, der aus seinen christlichen und humanistischen Wurzeln zum Frieden, zum Einsatz für Gerechtigkeit und Menschenwürde aufgerufen bleibt.

CB

 

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