Bbr. Dr. Jürgen Becker: „Zivilcourage zeigen. Egal, was kommt!“

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ESSEN. Seine Sorge um Freiheit, Recht und Menschenwürde hat sich tief eingeprägt - so wird er allen, die ihn kannten, in Erinnerung bleiben. Nun trauert die Unitas Ruhrania um ihren Bbr. Dr. Jürgen Becker, der am 18. Januar 2025 nach einem erfüllten Leben im Alter von 97 Jahren gestorben ist. Der älteste Ruhrane, lange Jahre erster Beigeordneter der Stadt Bocholt, wurde dort nach dem Requiem in St. Georg am 24.Januar 2025 zur letzten Ruhe getragen, die Ruhranenfahne begleitete seinen letzten Weg.

„Ein kämpferischer Haufen“

Der gebürtige Gleiwitzer, am 31. Mai 1927 geboren, war ein standfester Vertreter von Prinzipientreue: Bereits als 12-Jähriger begriff er den fingierten „Überfall“ auf den dortigen Sender, mit dem der Überfall auf Polen begann, als „dreiste Lüge der NS-Kriegstreiber“. Den Tag seiner Flucht aus Schlesien in die Lüneburger Heide vergaß er nie, ebenso nicht seine Widerworte bei einer SS-Werbeveranstaltung, bei der ihm seine Fragen nach Nationalsozialismus und christlicher Glaube nur schwer erklärt werden konnten. Seine Einberufung zum „Volkssturm" wurde mit der Flucht Makulatur, doch die Erfahrungen dieser Zeit prägten sich tief ein.

Als er sich während seines Jurastudiums im SS 1950 der in Münster kräftig florierenden Unitas Ruhrania anschloss, schätzte er die prägende Kameradschaft der Kriegsgeneration. „Wir von der Ruhrania waren ein kämpferischer Haufen“, berichtete er später den Aktiven, zu denen er im hohen Alter in Essen wieder intensiven Kontakt aufnahm. Als nachdrücklich wirkend aus seiner eigenen Studentenzeit in Münster bezeichnete er die Begegnungen mit Bbr. Prälat Heinrich Portmann (1905-1961), dem damaligen Ehrensenior der Ruhrania, Geheimsekretär und ersten Biographem Kardinal Clemens von Galens.


Ruhranen-Ehrensenior Prälat Heinrich Portmann (l.) und Bbr. Jürgen Becker als Student Anfang der 1950er Jahre in Münster

Prägend für seine neue Heimatstadt

Bbr. Jürgen Beckers berufliche Tätigkeit führte ihn zunächst bis 1972 als erster Beigeordneter in die Stadt Gronau, anschließend in die größte Stadt des Kreises Borken: Hier war der Jurist lange Jahre Stellvertreter des Stadtdirektors. 19 Jahre lang prägte er als erster Beigeordneter und Schuldezernent bis 1991 das Leben der Stadt in den Bereichen Kultur, Bildung, Sport und Jugend. Nach der Wende sah Dr. Jürgen Becker seine Aufgabe im Engagement für den Aufbau in den neuen Bundesländern: Als Dezernent in Schönebeck bei Magdeburg in Sachsen-Anhalt brachte er dort seine langjährige berufliche Expertise ein.

Als selbständiger Rechtsanwalt kehrte schließlich nach Bocholt zurück, wo er sich auch ehrenamtlich in zahlreichen Vereinen und Organisationen einsetzte. So war Bbr. Becker in den 1970er und 80er Jahren Ortsbeauftragter des THW Bocholt, Landeshelfersprecher des Landesverbandes NRW und baute nach der Wende im Landkreis Schönebeck den Ortsverband Calbe mit auf. In Bocholt, Partnerstadt von Rossendale/GB, war Bbr. Becker 1983 Gründungsmitglied der Deutsch-Britischen Gesellschaft und übernahm deren Vorsitz. Auch für weitere internationale Beziehungen setzte er sich ein: So führte er zeitweise die 1961 gegründete Arbeitsgemeinschaft Achterhoek-Westmünsterland, die sich für den kulturellen Austausch zwischen der Region und der niederländischen Nachbarschaft einsetzt. Sein Herz schlug aber auch für den Karneval: 1976 bildete er als Jürgen I. mit Hedwig Hessing das Prinzenpaar der Stadt. Für sein vielfältiges Engagement ausgezeichnet wurde er 1974 mit dem Bundesverdienstkreuz am Bande und 1990 mit dem Verdienstkreuz I. Klasse am Bande.

Intensiv bearbeitete Akten und Recherchen von Bbr. Dr. Jürgen Becker für die Rehabilitierung der Lübecker Märtyrer

Recherchen für ein Lebensthema

Bleibende Verdienste für die ganze Unitas, zu der er nach ihrer langen Zeit der Suspendierung in Essen wiederfand, spiegeln sich in einem Konvolut an Akten, das dem Altherrenverein der Unitas Ruhrania von seiner Familie nach der Beerdigung in Bocholt übereignet wurde. In penibler Kleinarbeit arbeitete er mit deutlich über 80 Jahren endlich ein Lebensthema auf, das ihn lange begleitete. Als Rechtsanwalt „im Auftrag der Unitas Ruhrania“, wie er immer betonte, setzte er sich an viele Recherchen und nahm zahlreichen Briefverkehr mit Kirche und Institutionen auf. Seine Bemühungen mündeten in die offizielle juristische Rehabilitierung der „Lübecker Kapläne“, von denen Johannes Prassek und Eduard Müller der Unitas Ruhrania angehörten. Bbr. Beckers in den Akten dokumentierten Schriftsätze zur formellen Intervention beim Landgericht Berlin waren schließlich rechtzeitig kurz vor der Seligsprechung der „Lübecker Märtyrer“ 2011 in Lübeck erfolgreich, wie auch sein Aufsatz in der Verbandszeitschrift 2011 zeigte. Der Mut und das Schicksal der jungen Widerständler blieb ein Thema, das ihn sehr bewegte: „Das geht mir wirklich unter die Haut“, bekannte er mehrfach.


Bbr. Jürgen Becker nach einer Wissenschaftlichen Sitzung 2011 in Essen mit der damaligen Prima der Unitas Franziska Christine, Bsr. Nina Spannruft, geb. Breiderhoff

Seine klar gegliederten, schnörkellos-nüchternen und doch von großer Leidenschaft getragenen Anmerkungen bei Wissenschaftlichen Sitzungen und Ansprachen, aber auch als Zeitzeuge in Radiobeiträgen stellten klar: Für ihn war das Todesurteil gegen die „Lübecker“ ein eindeutiger Stellvertreterprozess gegen den Münsteraner Bischof Clemens August von Galen. Dies betonte Becker mit Hinweis auf Hitlers direkte Einflussnahme, aber auch den Charakter und die Rolle der Prozessbeteiligten immer wieder. Als kritischer Beobachter kommentierte er selbst bitter, dass zahllose Richter der NS-Justiz unbehelligt noch Jahrzehnte tätig waren. Immer neu verwies er am Beispiel der vier Lübecker Glaubenszeugen auf aktuelle Gefährdungen der Freiheit heute: „Freiheit ist kein bleibendes Geschenk“, erklärte er: „Es ist eine Chance. Und man muss jeden Tag dafür einstehen und kämpfen!“

Gefährdungen der Freiheit heute

Mit Blick etwa auf Fragen zur Patentierung von embryonalen Stammzellen und viele Bereiche, in denen immer wieder die Menschenwürde gefährdet sei, appellierte er bei einem denkwürdigen Vortrag in Essen: „Das Fazit heißt: Mund aufmachen, Meinung sagen, Zivilcourage zeigen. Egal, was kommt!“.  Nicht zuletzt hinterließ 2011 seine spontane Rede zum 100-Jährigen der Unitas Ruhrania auf Schloss Borbeck großen Eindruck bei allen Festteilnehmern. Mit Hinweis auf mehrere Beispiele aus aktuell diskutierten Rechtsfragen mahnte er damals im Innersten bewegt: „So viel anders als zu den unsicheren Zeiten der noch jungen Republik, die wir als Aktive erlebten, ist es auch heute nicht. Wir haben auch damals die Vorläufigkeiten und Gefährdungen sehr deutlich gespürt und gewusst, dass es auf Haltung ankommt.“ In den widerstreitenden Meinungen seien Grundsätze unerlässlich: „Die haben wir, die habt ihr. Sie steckt in unseren Prinzipien. Vergesst das nicht.“

Ende Mai 2012 ehrte die Unitas Ruhrania den so bescheiden gebliebenen „großen Zeitgenossen“, wie er im Nachruf in Bocholt bezeichnet wurde, zu seinem 85. Geburtstag mit dem Ehrenschieber. Er trägt als Gravur ein Zitat aus den Abschiedsbriefen von Johannes Prassek: „In mir ist die große Freude der Hoffnung". Die Ruhr-Unitas ist seiner Frau und Familie, Kindern und Enkelkindern herzlich verbunden.

cb

Bilder unten: Die Seligsprechung der „Lübecker Märtyrer“ 2011 in Lübeck war ein großes Ereignis für den Verband und die Unitas-Ruhrania

Am Vortrag der Seligsprechung in Lübeck: Der damalige Unitas-Altherrenbundsvorsitzende Bernhard Mihm (Mitte), dem Erbe der Lübecker Märtyrer sehr verbunden, rechts: Bbr. Dr. Jürgen Becker

Ein schöner Tag auch für Bbr. Dr. Jürgen Becker, der einige Erinnerungen aus seiner Studentenzeit mitgebracht hatte.