ESSEN. Just in diesem Jahr wird in vielfacher Weise an den Ruhrkampf und das Chaos-Jahr 1923 erinnert. Denn vor 100 Jahren entlud sich die damals so beschworene „Erbfeindschaft“ zwischen Deutschen und Franzosen fünf Jahre nach dem Ersten Weltkrieg erneut: Den Großvätern des 1870/71er Krieges und den Veteranen der Westfront 1914-18 saßen noch ihre Kriegserfahrungen im Genick, als die Franzosen aus ihrem verwüsteten, demoralisierten und gedemütigten Land an die Ruhr marschierten, um ausstehende Reparationen zu fordern. Und die ganze Region verfiel in passiven Widerstand, während radikale Kreise allenthalben eine widerliche Mär anrührten, die von 1939 bis 1945 in die absolute Katastrophe für den ganzen Kontinent führte.
Ein Jahrtausend und mehr
Die Dauerkonkurrenz zwischen dem ersten Nationalstaat und dem „Heiligen Römischen Reich“, die rechtsrheinischen Verwüstungen von König Ludwig XIV., die napoleonische Expansion mit ihren Folgen oder der Kampf um Elsass-Lothringen – alle prägenden Historiker, die diese Themen als Grundnarrativ immer wieder in den Vordergrund stellten, fanden stets ihr dankbares Publikum. Dass sich aber nun nach all dem Chauvinismus, nach den verheerenden Erfahrungen vieler Jahrhunderte, ausgerechnet zwischen diesen beiden Staaten eine besondere und völlig neue Beziehung entwickeln würde, hatte niemand auf der Rechnung - auf beiden Seiten des Rheins. Zu vergiftet, zu toxisch, wie man heute sicher sagen würde, war das Verhältnis.
Der Geist der Versöhnung
Doch einigen wenigen war immer klar: Die mehr als tausendjährigen fruchtbaren gegenseitigen Bindungen zwischen diesen Brüdern waren weit stärker als ihre Differenzen. Sie gründeten nicht nur in einer gemeinsamen Geschichte, sondern auf einem Fundament, dessen Konturen von der nationalistischen Hybris fast ausradiert wurden. Der 1950 erstmals vergebene Karlspreis zu Aachen und die am 9. Mai 1950 durch den französischen Außenminister Bbr. Robert Schuman (1886–1963) veröffentlichte „Historische Erklärung“ für die Neukonstruktion Europas waren und bleiben Zeichen für diesen Neuanfang. Sie knüpften an die gemeinsamen Grundlagen der unterschiedlichen Entitäten: Staatsvernunft und christlicher Versöhnungsgeist vereinten sich vor 60 Jahren zwischen den zerschossenen Pfeilern eines nationalen Symbols mit höchster symbolischer Bedeutung.
Denn bevor Bundeskanzler Konrad Adenauer und der französische Staatspräsident Charles de Gaulle am 22. Januar 1963 den deutsch-französischen Freundschaftsvertrag im Élysée-Palast unterzeichneten, trafen sie sich zuerst an einem anderen Ort: In der nordfranzösischen Kathedrale Notre-Dame de Reims. In deren Vorgängerin hatte sich 1500 Jahre zuvor Frankenkönig Chlodwig durch den Hl. Remigius taufen lassen und sie war bis 1825 Krönungskirche fast aller französischen Könige. In der Marne-Schlacht von 1914 wurde sie in barbarischer Weise von deutschen Truppen geschändet und in Flammen gesetzt, 1919 erklärte Frankreich die Stadt sogar zur ville martyre. Fast 20 Jahre dauerte die Rekonstruktion der gotischen Kathedrale, erst am 18. Oktober 1937 wurde sie neu geweiht. Und der Ort blieb weiter im Fokus der Geschichte: Neun Jahre später, am 7. Mai 1945, unterzeichnete die deutsche Wehrmacht in der Stadt ihre bedingungslose Kapitulation.
Versöhnungsmesse 1962 in der Kathedrale von Reims. Bild: Presse- und Informationsamt der Bundesregierung - Bildbestand (B 145 Bild)
60 Jahre Élysée-Vertrag
Doch beide Völker sollten in der vom Krieg noch gezeichneten Kathedrale mit ihrem berühmten Mosaik-Labyrinth endlich wieder einen Ausweg aus den Wirrnissen der Vergangenheit finden: Vorausgegangen waren seit 1958 private Treffen von Staatspräsident Charles de Gaulle und Bundeskanzler Konrad Adenauer. In ihnen bekräftigten sie ihren Willen, die „Erbfeindschaft“ der Vergangenheit endgültig zu beenden und das Fundament für das europäische Einigungswerk zu legen. Und nicht nur Ort, sondern auch die Zeit war mit Bedacht gewählt: Just 100 Jahre zuvor, am 18. Januar 1919, dem Jahrestag der deutschen Reichsgründung zu Versailles von 1871, begannen die Verhandlungen, die in den demütigenden Versailler Friedensvertrag mündeten.
Am 8. Juli 1962 erlebte nun eine erstaunte und reservierte Öffentlichkeit schließlich im Pontifikalhochamt in der Kathedrale von Reims die „théâtralisation de la réconciliation franco-allemande“, eine bewegende Versöhnungsmesse, an die noch heute in den Boden eingelassene Tafeln vor der Kirche in deutscher und französischer Sprache erinnern. Mit dem deutsch-französischen Freundschaftsvertrag vom 22. Januar 1963 im Élysée-Palast war anschließend ein Meilenstein in der Geschichte Europas gesetzt.
Update: „Vertrag von Aachen“
All dies blieb fester Bezugspunkt für die neuen Beziehungen beider Länder: Am 22. September 1984 gedachten Bundeskanzler Helmut Kohl und Staatspräsident François Mitterrrand in Verdun der Toten beider Weltkriege und zum 50. Jubiläum des Élysée-Vertrages feierten am 8. Juli 2012 Staatspräsident François Hollande und Bundeskanzlerin Angela Merkel in der Kathedrale von Reims die Messe mit. Zum 55. Jahrestag des Élysée-Vertrages vereinbarten Präsident Emmanuel Macron und Bundeskanzlerin Merkel im Januar 2018 die Ausarbeitung eines neuen Vertrages, ein „Update“, das den Élysée-Vertrag aktualisieren und ergänzen sollte. Diesmal wurde er an einem anderen Ort mit hoher Symbolkraft ratifiziert: 2019, im Krönungssaal des Rathauses in der Kaiserstadt Aachen, wieder an einem 22. Januar.
Wie Bbr. Thibaut Feike, damals Senior der Unitas Ruhrania, bei einer Wissenschaftlichen Sitzung am 10. Juli 2019 ausführte, soll der „Vertrag von Aachen“ die Kooperation beider Länder im Bereich der wirtschaftlichen Integration und die Zusammenarbeit der Zivilgesellschaften verstärken. Setzte der nach den Erfahrungen des Krieges geschlossene Deutsch-Französische Freundschaftsvertrag von 1962 vor allem noch auf eine vorsichtige Annäherung der ehemaligen Gegner, zielte das vor allem durch Präsident Macron vorangetriebene „Update“ auf die Erweiterung verbindlicher Kooperation beider Staaten der Zusammenarbeit in Wirtschaft, Gesellschaft, Politik, Kultur und Technologie sowie in der Außen-, Verteidigungs-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik vor. Dies zeigen bereits die Kapitelüberschriften: 1. Europäische Angelegenheiten, 2. Frieden, Sicherheit und Entwicklung, 3. Kultur, Bildung, Forschung und Mobilität, 4. Regionale und grenzüberschreitende Zusammenarbeit, 5. Nachhaltige Entwicklung, Klima, Umwelt und wirtschaftliche Angelegenheiten, 6. Organisation. -> Der Vertrag im Wortlaut
Auch sieht der Vertrag die Stärkung von Begegnungen der Zivilgesellschaft vor: So soll ein gemeinsamer Bürgerfonds Bürgerinitiativen und Städtepartnerschaften fördern. In den Bereichen Bildung und Forschung stehen neben der Förderung des gegenseitigen Spracherwerbs auch die gegenseitige Anerkennung von Schul- und Berufsabschlüssen im Mittelpunkt, auch sollen in sogenannten Eurodistrikten für die Verbesserung des täglichen Lebens im Grenzbereich von Frankreich grenzüberschreitende Projekte ermöglicht werden: Lokale Akteure in den Grenzregionen erhalten die Möglichkeit, etwa Kindertagesstätten, Bildungseinrichtungen, Notfall- und Gesundheitsversorgung oder Gewerbezonen einzurichten. Wichtige weitere Punkte sind die Schaffung einer deutsch-französischen digitalen Plattform für audiovisuelle Inhalte und Informationsangebote sowie die Verbesserung grenzüberschreitender Bahnverbindungen, um den Verkehr zwischen den Staaten zu verbessern.
Festgeschrieben ist zudem eine enge Koordination der Außenpolitik: Vor EU-Gipfeltreffen, Abstimmungen in den Vereinten Nationen und anderen multilateralen Organisationen sollen Konsultationen Beschlüsse im gemeinsamen Interesse fördern. Vereinbart ist eine stärkere militärische Zusammenarbeit, gegenseitige Hilfe in Krisenlagen, eine gemeinsame Ausgestaltung der Europäischen Verteidigungsunion, von Friedens- und Polizeieinsätzen sowie eine enge Partnerschaft mit Afrika.
Bleibende Aufgabe – gerade für die Unitas
Und doch verschwand der „Vertrag von Aachen“ (frz. Traité d’Aix-la-Chapelle) gleich nach der Ratifizierung bereits wieder fast vollständig aus der öffentlichen Diskussion – trotz seiner weitreichenden Bestimmungen, die das Verhältnis der beiden EU-Staaten in Zukunft nachhaltig beeinflussen. Ein Menetekel? Gerade in diesen Zeiten, in denen es wie kaum zuvor in den letzten Jahrzehnten auf verlässliche Koopertationen ankommt? Oder ist das Verhältnis beider Staaten nach einem fast vollständigen Menschenleben schon so weit gediehen, dass es stabil und selbstverständlich einfach „läuft“?
Das wäre nur zu wünschen – allemal bleibt die Erinnerung an diese entscheidenden Daten der Geschichte Europas eine bleibende Aufgabe. Auch und gerade für die Unitas.
CB
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10. Juli 2019: „Mehr als ein Symbol“: Wissenschaftliche Sitzung zum „Vertrag von Aachen“