Essener Intendantin: „Ohne Religion keine Musik“

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ESSEN. Eine veritable musikalische Reisegesellschaft versammelte sich beim jährlichen Albertus Magnus-Tag der katholischen akademischen Verbände im Bistum Essen (CV, KAR, KMF im ND, UV). Sie luden am 15. November 2024, dem Gedenktag des 1931 heiliggesprochenen Wissenschaftlers und Theologen Albertus Magnus zum Festgottesdienst, den Pater Georg Scholles OFM um 18.00 Uhr in der Kirche des Franz Sales-Hauses feierte. Marie Babette Nierenz, seit Beginn der Spielzeit 2023/24 Intendantin der Philharmonie Essen, widmete sich im Anschluss dem anspruchsvollen Thema „Kunst in der Religion und Religion in der Kunst“, die Diskussion mit Domorganist Sebastian Küchler-Blessing vertiefte im großen Saal des „Hotel Franz“ die Erkenntnisse der Zeitreise durch die Welt der religiös inspirierten Tonschöpfung.

„Ohne Religion keine Musik“ …

… so die steile These der gebürtigen Düsseldorferin, die ihre Amtszeit in Essen unter den Gedanken bürgerlicher Partizipation, künstlerischer Profilierung und programmatischer Vielfalt stellte. Gleichwohl zog sich ihr Ausgangsstatement wie ein roter Faden durch den mit zahlreichen eingespielten Musikbeispielen illustrierten Vortrag. Marie Babette Nierenz startete im Byzanz des 4. Jahrhunderts und mit liturgischen Gesängen der Hl. Kassia (810-865), der ersten namentlich bekannten Komponistin des Abendlandes, deren Hymnen noch heute in der orthodoxen Liturgie Verwendung finden. Sie erläuterte zahlreiche biblische Textstellen aus dem Alten und neuen Testament, würdigte die Sammlung lateinischer Gesänge in den Chorälen des Hl. Papst Gregor und die seit dem 9. Jahrhundert schriftliche erfasste klösterliche Musikpraxis mit den ersten mehrstimmigen Gesängen.

Luthers sprachlicher „Urknall“ mit seiner Bibelübersetzung und noch heute populären deutschsprachigen Kirchenliedern, so der lebendige Vortrag, fand seinen Höhepunkt im Barock: Von Paul Gerhards Liedern schlug Nierenz den Bogen zu Johann Sebastian Bachs riesigem Werk, seinen Chorälen, Messen, mehr als 300 Cantaten, aber auch seiner Johannes- und Matthäus-Passion, die sich zunehmend aus den Kirchen in den säkularen Raum bewegten. Spätestens mit Beethovens, Mozarts und Schuberts Werken (Deutsche Messe, 1827) seien die mit großen Chören und zahlreichen Musikern aufgeführten „Messen“ auch ganz praktisch kaum noch im Zusammenhang mit dem Kirchenraum aufzuführen gewesen, unterstrich Marie Babette Nierenz: Messen von Berlioz, Rossini oder Verdi (Missa da Requiem, 1874) seien längst ausdrücklich für große Konzertsäle geschrieben.

Damit wandelte sich ursprünglich religiöse Literatur, die sich am Text der Bibel orientierte, zunehmend „zur großen Opernszene“, machte Nierenz deutlich, ein Trend, der sich mit dem vor 200 Jahren geborenen Bruckner, mit Mendelssohn-Bartholdy („Elias“) oder Strawinski fortsetzte. Bürgerliche Kultur setzte sich gegen höfische Auftragsarbeiten durch, allenthalben installierte sich ein öffentliches Konzertleben; die „Demokratisierung“ des religiösen Musikschatzes und die säkulare Musikpraxis gingen einher mit der Gründung musikalischer Gesellschaften, Singvereinen und Massenchören. Zudem führte die Neuentdeckung von Bach nun ganz in den öffentlichen Raum, der zum Ort biblischer Themen wurde. An ihnen könne auch die moderne Aufführungspraxis nicht vorbeigehen, so die Intendantin: Nicht nur um die religiös geprägten Feiertage seien Werke mit religiösen Inhalten bis heute fest im Programm gesetzt – mit großem Publikumserfolg.

„Alpha und Omega unserer kulturellen Identität“

Öffentliche Musikpraxis damals und heute – ist sie nun eine Konkurrenz zum ursprünglich liturgischen Gebrauch? Für Marie Babette Nierenz sei das ausdrücklich nicht der Fall, erklärte die Essener Intendantin, die schon 2003 zum Gründungsteam zur Wiedereröffnung der Philharmonie Essen gehörte. Sie unterstrich in der anschließenden Debatte mit Domorganist Sebastian Küchler-Blessing die „geradezu doppelte Wirkung“ unterschiedlicher Aufführungsorte. Nicht selten seien Besucher großer Konzertsäle durch die Musik emotional so bewegt, dass man von durchaus religiösen Erlebnissen sprechen könne, bei denen „der Himmel aufgehe“. Religiös inspirierte Musik wirke hier über den sakralen Raum hinaus: „Sie ist und bleibt wesentlicher Bestandteil des Kosmos und das Alpha und Omega unserer kulturellen Identität.“ - Just am 21./22. November steht die „Messa di Gloria" von Giacomo Puccini auf dem Spielplan, das 1880 entstandene Hauptwerk seines kirchenmusikalischen Schaffens: „Orchestrale Pracht und opernhafte Melodik treffen auf festliche Sakralmusik - ein außergewöhnliches Gotteslob!", wie die Konzertankündigung vermerkt.

Die Intendantin, die die Essener Musikszene mit vielfältigem Programm und innovativen Partizipationsprojekten zu neuer künstlerischer Strahlkraft verhelfen will, machte zu ihrem gestellten Thema zugleich deutlich: „Die beste Musik gibt es immer noch im Dom", erklärte sie an die Adresse ihres Kollegen Domorganist Sebastian Küchler-Blessing. Er verwies in der abschließenden Fragerunde nicht nur auf die aus dem Kloster Werden überlieferten frühesten Zeugnisse der ersten mehrstimmigen „Musica Enchiriadis“, sondern illustrierte die große Spannbreite religiöser Musik in der Liturgie heute und nahm das Urteil seiner Kollegin im Namen der vielen Musiker an der Kathedrale ohne Widerspruch gerne entgegen.

Die musikalische Begleitung des vom Katholischen Akademikerverband Ruhr (KAR) unter Leitung von Prof. Hans-Georg Krengel organisierten Abends übernahmen erneut Heinz-Jacob Spelmanns und Johannes Kohlhaus. Sie zeigten am Flügel und Querflöte, dass Musik nicht nur als „Urgeräusch des Universums“ gelten mag. Denn auch die viel geübte und erprobte Virtuosität aller, die sich musikalisch auszudrücken verstehen, verdanken sich nicht zuletzt einem besonderen Talent, das sich ebenfalls durchaus religiös deuten lässt.

C. Beckmann